Interview

Vorausschauende humanitäre Hilfe

Zerstörung nach Naturkatastrophe

Helfen, bevor es zu spät ist

Dr. Thorsten Klose-Zuber ist Generalsekretär bei Help – Hilfe zur Selbsthilfe. Im Interview mit Aktion Deutschland Hilft spricht er über vorausschauende humanitäre Hilfe, warum es wichtig ist, bereits vorm Eintreffen einer Katastrophe zu reagieren und was Wissenschaft damit zu tun hat.

„Humanitäre Hilfe heißt auch, vorausschauend zu handeln.“

Aktion Deutschland Hilft (ADH): Humanitäre Hilfe unterstützt Menschen, die sich aufgrund von Krisen, Konflikten oder Naturkatastrophen in einer akuten Notlage befinden und diese aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Was leistet vorausschauende humanitäre Hilfe? 

Dr. Thorsten Klose-Zuber: Der wesentliche Unterschied zwischen der klassischen Not- und Katastrophenhilfe und der vorausschauenden humanitären Hilfe besteht darin, dass die Katastrophe nicht erst passieren muss, damit Hilfsorganisationen aktiv werden. Was meine ich damit: Die klassische Not- und Katastrophenhilfe ist immer eine reaktive Hilfe. Es passiert eine Katastrophe, es bricht ein Konflikt aus, die Not ist da und man reagiert auf diese Not. Die vorausschauende humanitäre Hilfe verfolgt einen anderen Ansatz.

Wie sieht dieser aus?

Vorausschauende Hilfe setzt bereits kurz vor dem Eintreffen der Katastrophe ein. Hilfsorganisationen interpretieren im Vorfeld die Anzeichen einer herannahenden Notlage und ergreifen einige Wochen bis wenige Tage im Voraus konkrete Maßnahmen, die darauf abzielen, die Wahrscheinlichkeit und Schwere einer eintretenden humanitären Not zu reduzieren.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Tropische Wirbelstürme oder Überschwemmungen sind klassische Beispiele. Sie lassen sich aufgrund von mittlerweile sehr guten meteorologischen Daten mehrere Tage im Voraus vorhersagen. Schon bevor die Katastrophe passiert, lassen sich vorausschauende Maßnahmen ergreifen. So können zum Beispiel vorzeitig Hilfsgüter in die bedrohte Region geliefert und Trinkwasserreserven aufgestockt werden. Bedrohte Menschen und ihr Hab und Gut können rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden.

Auch die Katastrophenvorsorge zielt darauf ab, vorausschauend zu helfen, um die Auswirkungen von Krisen und Katastrophen für betroffene Menschen abzumildern und sie besser darauf vorzubereiten. Warum braucht es hier einen zusätzlichen Hilfsansatz?

Beide Ansätze ergänzen sich gegenseitig. Katastrophenvorsorge ergreift eher langfristige Maßnahmen, um die Menschen vor den grundsätzlichen Risiken und Auswirkungen von Katastrophen zu schützen, die immer wieder in ihrer Region auftreten. So werden zum Beispiel Evakuierungszentren und Schutzräume gebaut, Erste-Hilfe-Trainings durchgeführt und Risikokarten erstellt. Das Problem ist aber: Wenn eine akute Notlage unmittelbar bevorsteht, ist die Katastrophenvorsorge mit ihren eher langfristigen Maßnahmen nicht flexibel genug, um kurzfristig auf die bevorstehende Krisensituation zu reagieren. Die vorausschauende humanitäre Hilfe setzt genau hier an und schließt damit quasi die Lücke zwischen Katastrophenvorsorge und der reaktiven Not- und Katastrophenhilfe.

Sie sprechen von Anzeichen, die gesehen, von Daten, die ausgewertet werden müssen. Auf welcher Basis werden Entscheidungen in der vorausschauenden humanitären Hilfe getroffen, wenn die Katastrophe noch nicht eingetreten ist?

Die vorausschauende humanitäre Hilfe hat sich in den letzten Jahren vor allem bei Extremwetterereignissen bewährt. Hier spielen wissenschaftliche, in der Regel meteorologische und klimatologische Daten, eine zentrale Rolle. Sie geben Aufschluss darüber, wo zum Beispiel eine Überschwemmung, eine Dürre oder ein Wirbelsturm droht. Darüber hinaus ist ein Verständnis der Situation der bedrohten Region nötig. Wer ist potenziell betroffen? Welche Hilfe wird nötig sein? Auch für diese lokalen Gegebenheiten werden im Vorfeld Daten gesammelt und ausgewertet. 

Hinzu kommen dann die sogenannten Schwellenwerte. Das sind Vorhersagen darüber, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Katastrophe mit humanitären Folgen ist. Sie basieren auf der Katastrophengeschichte der Region und müssen im Vorfeld festgelegt werden. Wird ein bestimmter Schwellenwert, also eine hohe Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Katastrophe, erreicht, werden automatisch Maßnahmen der vorausschauenden Hilfe ausgelöst.

Und was passiert, wenn Vorhersagen nicht eintreffen, wenn die Katastrophe ausbleibt?

Das passiert ausgesprochen selten, aber natürlich arbeitet vorausschauende humanitäre Hilfe mit Wahrscheinlichkeiten und Szenarien. Diese sind wissenschaftlich fundiert und mit bestmöglichen Informationen untermauert, aber es kann passieren, dass ein Extremereignis vorhergesagt wird und dann am Ende schwächer ausfällt. Dieses Restrisiko besteht und muss auch immer wieder eingegangen werden.

Ja, und dann?

Nun, humanitäre Hilfe findet zumeist in Ländern statt, in denen die Lebenssituation der Menschen ohnehin ausgesprochen schwierig und prekär ist. Maßnahmen der vorausschauenden Hilfe nutzen der lokalen Bevölkerung auch dann, wenn die Katastrophe nicht eintritt. 

Ein Beispiel: Wird eine schwere Dürre vorausgesagt, investieren wir im Zuge dessen vorausschauend in konkrete Maßnahmen, um eine Hungersnot abzuwenden, zum Beispiel durch eine bessere Verfügbarkeit von Wasser und Lebensmitteln, spezielle Trainings sowie dürreresistentes Saatgut. Sollte die Dürre nicht wie vorhergesagt eintreten, dann haben all die Maßnahmen, die wir durchgeführt haben, trotzdem einen positiven Effekt für die Menschen und die Region. Niemand könnte sagen, wir hätten Geld in den Sand gesetzt. Die Alternative wäre, trotz konkreter Vorhersagen immer erst zu warten, bis die Katastrophen eintritt. Das halte ich für nicht vertretbar.

Nun lassen sich meteorologische Ereignisse wie Extremwetter eher berechnen als zum Beispiel bewaffnete Konflikte. Kann man in solchen Krisen auch vorausschauend helfen?

In dem Fall verhält es sich tatsächlich etwas anders. Es gibt keine mir bekannten wissenschaftlichen Daten, die Wahrscheinlichkeitsberechnungen über den genauen Ausbruch von bewaffneten Konflikten zulassen. Trotzdem können Ansätze der vorausschauenden Hilfe auch hier wirken. So ist es möglich, Konfliktverläufe zu analysieren, um bestimmte Ereignisse vorherzusagen, die humanitäre Bedarfe nach sich ziehen. Aus Erfahrung wissen wir, dass auf Truppenbewegungen in der Regel auch Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung folgen. Wenn sich zum Beispiel der Frontverlauf in einer bestimmten Region verschiebt, kann man dann mit gezielten Maßnahmen den kurz danach fliehenden Menschen in den Nachbarregionen schneller helfen.

Vorausschauend helfen, das klingt alles so logisch und sinnvoll. Warum wurde das nicht schon immer so gemacht?

Eine wesentliche Rolle spielt die Verfügbarkeit und Verlässlichkeit von wissenschaftlichen Daten. Sie sind heute wesentlich besser als früher. Im Fall von Extremwetterereignissen lässt sich inzwischen viel genauer vorhersagen, wann was passieren wird.

Ein anderer Grund ist die Finanzierung. Im Bundeshaushalt hat die humanitäre Hilfe bis vor knapp 10 Jahren so gut wie keine Rolle gespielt. Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung zum Beispiel 2010 in die humanitäre Hilfe investiert hat, ist das im Vergleich zu heute vernachlässigbar. Trotzdem ist humanitäre Hilfe heute weiterhin unterfinanziert – sie wird noch immer nicht den weltweit steigenden Bedarfen gerecht.

Stichwort Finanzierung: In Deutschland unterstützen Spender:innen deutlich häufiger Not- und Katastrophenhilfe im Vergleich zu reinen Vorsorgeprojekten. Was bedeutet das für die Finanzierung von vorausschauender humanitärer Hilfe? Oder ist diese überhaupt nicht auf Spenden angewiesen?

Doch, vorausschauende Hilfe ist genauso auf Spendengelder angewiesen wie die Not- und Katastrophenhilfe. Gelder sind hier für zwei Dinge wichtig: Es braucht Mittel, damit die lokalen Partnerorganisationen vor Ort die nötigen Daten erheben, Schwellenwerte berechnen, Einsatzpläne verfassen und sich mit weiteren Akteuren vernetzen können. Dieser Ausbau von lokalen Kapazitäten ist essenziell, um bei einer drohenden Katastrophe schnell agieren zu können. Darüber hinaus braucht es Gelder, die beim Erreichen von bestimmten Schwellenwerten
die frühzeitigen Hilfsmaßnahmen finanzieren, um die drohenden Katastrophenfolgen abzumildern.

Ich kann alle Spender:innen verstehen, die nach einer Katastrophe spenden, wenn die Not am größten ist. Das ist wichtig, absolut ehrenvoll und nutzt allen Hilfsorganisationen. Spenden für die vorausschauende humanitäre Hilfe sind allerdings genauso sinnvoll. Sie tragen dazu bei, dass humanitärer Nothilfebedarf idealerweise gar nicht erst entsteht oder deutlich geringer ausfällt.

Was müsste sich am System internationale Hilfe verändern, damit sich vorausschauende humanitäre Hilfe dauerhaft etablieren kann?

Es braucht ein klares Bekenntnis von entsprechenden großen humanitären Geberinstitutionen, den Ansatz der vorausschauenden Hilfe in die Breite zu bringen und in solche Innovationen der humanitären Hilfe zu investieren. Leider ist momentan genau das Gegenteil der Fall. In der Bundeshaushaltsplanung für 2024 wird der Etat für humanitäre Hilfe um fast ein Drittel gekürzt. Das ist unverantwortlich und genau die falsche Richtung, insbesondere vor dem Hintergrund jährlich steigender humanitärer Bedarfe. 

Aber – selbstkritischer Blick – es braucht auch eine flächendeckende Absicht der Hilfsorganisationen, ihren Aktionsradius zu erweitern und nicht nur auf Katastrophen, die Nöte und die Bedarfe zu reagieren. Organisationen sollten auch mit ihren lokalen Partnerorganisationen dazu übergehen, den neuen Ansatz zu testen und auszubauen.

Interview: Ilja Schirkowskij

Inhalt eines Lebensmittel-Pakets für Menschen in der Ukraine
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